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Ferdinand Ullrich

ZEICHNUNG ALS PRINZIP KÜNSTLERISCHEN HANDELNS BEI BENTE STOKKE

Lose Enden

In der Küche von Bente Stokkes Atelier in Berlin-Kreuzberg befindet sich ein großes Knäuel aus Schnüren unterschiedlicher Herkunft. Verschiedene Materialien kommen hier zusammen: Reste von Hanf- und Kunststoffseilen, Kabeln und Fäden, Garnen und Gummibändern. Es sind Fundstücke, die sie am Strand oder Wegesrand gefunden hat oder die ihr als Geschenke aus aller Welt mitgebracht wurden. Sie sind heillos zu einer Kugelform mit einem Durchmesser von über einem Meter und einem Gewicht von mittlerweile 80 kg verknotet. Seit vielen Jahren wächst die Kugel kontinuierlich an. Loose ends, so der Titel des Werks, ist eine Spurensuche nach den Formähnlichkeiten unserer Welt, jenseits aller Zweckbestimmung, und zugleich eine Aussage über die Möglichkeit ästhetischer Grundverhältnisse des Menschen.

Diese Schnüre kann man als zeichnerische Linien lesen, die in ihrer Anhäufung Raum konstituieren: Zeichnung im Raum. Dabei ist die Linie selbst nicht das Resultat einer körperlichen Bewegung der Künstlerin, sondern Produkt eines bereits vollzogenen handwerklichen oder industriellen Prozesses. Die Linien sind schon da, bevor die Künstlerin sie einem Verwandlungsprozess unterwirft – vom utilitaristischen Alltagsgebrauch zur ästhetischen Freiheit der bloßen Form. Zugleich vollzieht sich ein radikaler Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen. In der abstrakten Kugelform konzentriert sich nicht nur der Alltag, sondern simultan auch die Welt, in der wir leben, die sich hier wie ein Sediment versammelt hat und gleichsam archäologisch erforscht wird.

Zeichnung im Raum

Es war der Bildhauer Julio González, der dem Jugendfreund Pablo Picasso in den späteren 1920er-Jahren die Stahlbildhauerei nahebrachte und damit die Entstehung der offenen Raumskulptur einleitete. Picasso faszinierte die Idee ‚Zeichnen im Raum‘. González zog, Masse und Volumen verleugnend, Linien aus Eisen durch den Raum, von einem Knotenpunkt zum anderen, wie die imaginierten Linien zwischen den Sternen am Nachthimmel, die uns die Sternbilder erst sichtbar machen. So wurde ein Volumen nicht ausgeführt, sondern umschrieben, nur angedeutet. Zugleich bedeutet dies aber auch die Möglichkeit einer unendlichen Ausdehnung der plastischen Idee. Nicht die tatsächliche Masse ist von Bedeutung, sondern das vorgestellte Volumen im Leerraum, im ‚Nichts‘.

Zeichnen mit Licht

1949 fertigte Pablo Picasso, inspiriert durch den Life-Fotografen Gjon Mili, eine Reihe von Langzeitfotografien, auf denen er mit einem Lichtstift in die Luft zeichnet. So entstanden Zeichnungen, die ausschließlich als fotografische Dokumentation sichtbar werden. Anders als eine Zeichnung mit Bleistift auf Papier wird hier kein dauerhaft sichtbares Material auf die Fläche und in den Raum gesetzt, kein Grafit und kein Eisendraht. Der Surrealist Man Ray gilt als der erste, der diese Form der ,immateriellen‘ Zeichnung Mitte der 1930er-Jahre schuf. Immateriell ist die Zeichnung deshalb, weil ja nicht die Fotografie das Werk ist, sondern allein die Lichtspur im Raum. Die Fotografie macht simultan sicht- bar, was als Aktion nur sukzessive entstand und sogleich wieder verschwand. Zeit, Raum und Materie wurden in eine bislang unbekannte Beziehung zueinander gesetzt, die schließlich die Idee der künstlerischen Plastik neu interpretierte.

Zeichnen als Idee

Zeichnen ist für Bente Stokke keine spezifisch künstlerische Technik, sondern eine Haltung und Idee, die vor allem körperlich vollzogen wird und so in Erscheinung tritt. Bente Stokke als Zeichnerin kann man nicht unabhängig von ihren plastischen Werken sehen. Beides ist unverbrüchlich miteinander verbunden. Es ist sogar so, dass ihr gesamtes Œuvre aus dem Geist der Zeichnung entwickelt wird.

Die Lichtzeichnungen Bente Stokkes überschreiten die Gattung in vielerlei Hinsicht. Das Werk Timesquare von 1982 entstand durch Abschreiten der Außenkanten eines Quadrates, das auf einem Feld markiert war. In der stockdunklen Nacht versuchte die Künstlerin, die Linien möglichst genau abzugehen, ohne dass sie diese sehen konnte. Sie war darauf angewiesen, die Idee des Quadrates körperlich zu erinnern und nachzuvollziehen, was ihr allerdings nur in Maßen gelang. Auf ihrem Kopf war eine Leuchte befestigt, die auf einer Langzeitbelichtung eine Bewegungsspur hinterließ. Auf vier Fotografien fand sich je eine der vier Kantenlinien. Der Betrachter muss nun selbst assoziativ diese vier Linien zu einem Quadrat zusammen- fügen. Er muss eine imaginative Leistung erbringen, die die Künstlerin körperlich bereits vollzogen hat.

Die sichtbare Abweichung der Ausführung von der Idee ist der Inhalt dieses performativen Experiments. Das Abstraktum (Quadrat) steht im Gegensatz zu den Möglichkeiten des menschlichen Ausdrucks und den Erscheinungsformen der Natur. So sehr Orientierungsvermögen und Körperbeherrschung auch ausgeprägt sein mochten, die Beschaffenheit des Geländes verhinderte, dass sich die ideale Figur tatsächlich sinnfällig herstellen ließ oder auch nur ein natürliches Bild davon möglich war.

Sekundenzeichnungen

Zeit ist eine weitere Idee, die Bente Stokke radikal und in gleicher Weise experimentell in den Griff zu bekommen versucht. In der Serie der Sekundenzeichnungen hat sie jede Sekunde eine Tuschezeichnung angefertigt. Sie verwendete dafür einen sogenannten Rapidographen, der vornehmlich für technische Zeichnungen Verwendung findet. Mit Hilfe eines Metronoms, das den Sekundentakt vorgab, entstanden so in 60 Minuten 3600 Zeichnungen im Format 10 x 10 cm – meist mit nur einem Punkt in der Mitte des Blattes. Das choreografische Moment ist dabei offensichtlich. So ist nicht nur die ‚Zeichnung‘ selbst herzustellen, sondern in den Rhythmus des Arbeitsablaufes sind auch die Bewegungen des Greifens und Weglegens des Blattes einzubeziehen. Die gezeichneten Blätter versammeln sich schließlich, eher zufällig übereinandergefallen, auf dem Boden zu einem Ensemble, bis sie den gesamten Raum einnehmen. Der Boden des Aktionsraumes wird damit selbst zu einer Zeichenfläche und die aufeinandergetürmten Blätter zu einem dreidimensionalen Raumgebilde, zu einem romantischen Eismeer, bei dem sich die Zeichenblätter wie Eisschollen übereinanderschieben. Lose aufgelegte Gummibänder umschreiben wie Inseln jeweils etwa 60 Blätter, die in einer Minute entstanden sind.

Zeit als Material

Während das materielle Moment in Timesquare völlig ausgeblendet ist und in den Sekundenzeichnungen Second Drawings extrem reduziert wird, kann es auch zum eigentlichen Thema werden.

In der Aktion 7 Days von 1982 verteilt sie rot und grün gefärbten Reis mit einer spitz zulaufenden Schütte auf dem Boden. Diese Vorrichtung bewirkt einen mehr oder weniger kontinuierlichen Streufluss. Es entsteht ein Geflecht aus sich überlagernden Linien. Die Bewegung des Körpers im Ausstellungsraum steuert die Richtung und – je nach Geschwindigkeit der Bewegung – auch die Dichte und Stärke der Linie auf dem Galerieboden. Jeden Tag um zwölf Uhr, über einen Zeitraum von sieben Tagen, wird der Reis wieder zusammengefegt, eingesammelt, gewogen und erneut auf die beschriebene Weise als Liniengefüge im Raum verteilt, bis er schließlich in der Ausstellung Zeit als Material ausgestellt wird. Trotz des sich stoisch wiederholenden Rituals und der identischen Rahmenbedingungen (Menge, Zeit, Raum) entsteht kein identisches Bild. In dem Maße, wie der menschliche Körper selbst als Zeicheninstrument benutzt wird, ist seine mangelnde Perfektion Ausdruck der Abweichung vom Ideal.

Auch hier steht am Ende die fotografische Dokumentation. Die Diapositive eines jeden Tages werden übereinandergelegt zu einer gemeinsamen, synthetischen, geradezu informellen Zeichnung, die nur sukzessive in sieben Etappen bestanden hat, aber nie als Ganzes.

1 km

2011 hat Bente Stokke eine Reihe von Zeichnungen geschaffen, die sie 1 km nennt. Zwei Normgrößen bringt sie zusammen: die Maßeinheit für Distanzen 1 Km und das Normmaß für Blattgrößen (DIN). In drei Figuren setzt sie das Experiment um: die liegende Acht als Zeichen des Unendlichen, das liegende Oval und das stehende Oval. Diese Figuren misst sie aus, um zu errechnen, wie viele Male sie als Endlosschleife gezeichnet werden müssen, um auf 1000 Meter zu kommen. Ein mechanischer Handzähler hilft ihr beim Zählen.

Die normierten Maßeinheiten sind die Grundlage für eine gleichsam meditative Erfahrung von endloser Zeit und endloser Linie. Eine Zeichnung kann in aller Regel dieses Maß nur als verkleinertes Bild wiedergeben. Die Künstlerin zeichnet aber nun eine endlose Linie von tatsächlich 1000 Metern. Das Blatt selbst misst lediglich 84,1 x 118,9 cm, sodass
die endlos-monumentale Erstreckung nur durch extreme Verdichtung und Überlagerung darstellbar ist.

Die große Distanz ist zusammengeschrumpft, verkleinert und auf ein Maß reduziert, das zu bewältigen ist. Es ist zugleich ein Abbild und dennoch auch die Sache selbst, der eine Kilometer, der ja tatsächlich materiell vorhanden ist. Diese Unmittelbarkeit und dieser Realismus unterscheiden das Entstandene von einer Landkarte, die sinnvoll nur im verkleinerten Maßstab besteht.

Diese Gleichzeitigkeit von groß und klein, endlos und begrenzt entspringt einer zeichnerischen Methode, deren Intention über die sportlich-physische Leistung hinausgeht. Es geht nicht um Effekt und Originalität, sondern um elementare und exemplarische Erfahrung.

Endloser Raum – endlose Zeit

„Zeichnen schafft Raum“, sagt Bente Stokke. Sie stellt unter Beweis, dass sogar ein endloser Raum und darin eine endlose Zeit zumindest imaginiert werden können.

In ihrem Atelier befindet sich eine überdimensionale Zeichnung, die vollständig mit Grafit überzogen ist. Es gibt keine freie Stelle, die das Papierweiß durchscheinen ließe. Der linke und der rechte Rand sind eingerollt, sodass man den Eindruck hat, dass mit dem sichtbaren Bestand das Bild noch nicht zu Ende ist. Durch die Reflexion des Lichtes auf dem Grafit entsteht eine leichte Irisierung. Keineswegs versinkt das Bild im bloßen, alles Licht auslöschenden Schwarz. Vielmehr sieht man Strukturen, Bewegungsrichtungen und Punkte. Sie sind umgeben von einer Aura, einer leichten Überstrahlung. So fällt es nicht schwer, dieses Monumentalbild als Sternenhimmel zu lesen. Zudem ist das Gebilde von einer geometrisch- kreisförmigen Linienstruktur überzogen, die das unübersichtliche Ganze in Sektionen aufteilt, wie wir es aus der Kartografie kennen.

Die Zeichnung überfordert uns in zweifacher Weise: Sie ist physisch groß, eine Karte des Himmels, die weder praktikabel noch wirklich überschaubar ist, und sie evoziert eine unendliche Größe, die sich jeder Anschauung entzieht, das absolut Große, das nur in höchster Emphase oder tiefster Versenkung als bloße Ahnung erfahrbar werden kann: ein kosmisches Bild. Punkt, Linie, Fläche, Raum – das ist die formale Spanne. Sie steht für eine Erfahrung der endlosen Zeit im endlosen Raum.

Asche

Bente Stokke ist mit ihren großräumigen und – flächigen Asche- und Staubinstallationen bekannt geworden. Sie hat dem ‚armen‘ Material, dem Dreck und dem Schmutz, ungeahnte ästhetische Qualitäten entlockt.

Das zeichnerisch-lineare Moment scheint darin keine Rolle zu spielen. Die Fläche, die in den Raum ausgreift, steht im Vordergrund. Das Grau-in-Grau, die stumpfe Materialanmutung, das Flüchtige und das Fragile sind charakteristisch.

Dennoch steckt auch hierin ein besonderer zeichnerischer Gedanke. Nicht nur entspricht die materielle Substanz, Staub und Asche, dem Grafit der Zeichnung, sondern auch die weitere Behandlung offenbart den zeichnerischen Ansatz. So finden sich auf den mit Staub überzogenen Glasplatten Linien, die durch das Entfernen und Wegwischen des Staubs mit dem Finger entstanden sind – eine Negativzeichnung, die nicht durch Auftragen von Materie zustande gekommen ist, sondern durch das Auslöschen. So kann man ansatzweise Gegenstände identifizieren: Tee- oder Kaffeekanne, Hocker, Cola-Flasche. Durch das Entfernen zeichnerischer Substanz entsteht Zeichnung. Zudem wird der Bildträger Glas an dieser Stelle durchscheinend und durchsichtig. Man kann durch die Zeichnung hindurchsehen. Es gibt ein Davor und ein Dahinter. Die Zeichnung existiert sozusagen im Nichts.

Akustisches Zeichnen

Kann man Zeichnung hören? Sicher ist, dass man den Vorgang des Zeichnens auch akustisch hervorkehren kann. Im Blick bleibt dabei immer auch das Ergebnis, die auf einen Träger gebannte Spur eines wie auch immer gearteten Zeichenstiftes, und sei es der eigene Körper. Da das Zeichnen und die Zeichnung bei Bente Stokke immer auch einen performativen Charakter hat, ist die Frage nicht ganz unberechtigt. So experimentiert sie mit Mikrofonen, auf denen sie mit dem Finger zeichnerische Bewegungen vollzieht, die entsprechende Geräusche bewirken. Nichts bleibt als das Geräusch, keinerlei sichtbare Spur.

Die Gattung wird in dieser Arbeit nun vollends ausgeweitet und überschritten und in der ganzen Bandbreite vor Augen und – in diesem Falle – vor Ohren geführt. Hier beweist sich ein Diktum Theodor W. Adornos: „Das substantielle Moment der Gattungen hat seinen Ort in den geschichtlichen Bedürfnissen ihrer Materialien.“ 1 Und diese Bedürfnisse lösen sich nun auf und werden zum Element eines freien Spiels zwischen den Gattungen, „ihre Demarkationslinien verfransen sich.“ 2

Zeichnung ist lebendige Existenz

Zeichnung ist bei Bente Stokke immer auch Aktion und körperliche Bewegung als unmittelbarer Ausdruck einer geistigen Bewegung, die sich nicht an die klassischen Erscheinungsformen der Gattung halten will. Die Grenzen werden vielmehr überschritten, auch wenn der Versuch zu scheitern droht.

Die Zeichnung ist eine Idee, nicht so sehr ein Werk, das sich auf ein materielles Moment reduzieren ließe.

Bente Stokke macht uns etwas sehr Grundsätzliches deutlich, eine anthropologische Konstante. Zeichnung bedeutet Entäußerung. Der Mensch setzt Zeichen und hinterlässt Spuren. Jede Zeichnung markiert einen Machtbereich. Zeichnung ist beispielhafte Selbsterfahrung und Identitätsfindung – selten so deutlich herausgearbeitet wie im Werk von Bente Stokke.


1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, S. 297.

2 Ders., „Die Kunst und die Künste“, in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt am Main 1967, S. 158–183, hier S. 158.