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> Michael Hübl - ZEITENSTAUB UND WELTPULVER

> Ferdinand Ullrich - ZEICHNUNG ALS PRINZIP KÜNSTLERISCHEN HANDELNS BEI BENTE STOKKE



Jan Brockmann

GEGENWART DES ENTSCHWUNDENEN

Wir alle kennen die Geschichte von den Schildbürgern, die beim Bau ihres Rathauses die Fenster vergessen hatten und nun versuchten, das Licht in Säcken einzufangen, um es ins Dunkel zu bringen. Das wäre heute als sehenswerte ästhetische Aktion vorstellbar, die Säcke gäben als Flachfallen im abgedichteten Rathaussaal eine sinnreiche Installation ab.

Eine ähnliche Anmutung haben auch die Installationen der Norwegerin Bente Stokke: Auch Sie unternimmt den unablässigen Versuch, ein Phänomen einzufangen – und damit aufzuheben –, das dieser Arbeit selbst Hohn zu sprechen scheint: Sie stellt der Zeit Fallen, sie versucht, Zeit dingfest zu machen. „Meine Arbeit existiert in einer ewigen Gegenwart, einem gefrorenen Augenblick, der alle Zeit und keine Zeit enthält“.

Eine norwegische Redeweise spricht vom Putzteufel als einem Wesen, „das Staub auf dem Gehirn hat“. Dieser Ausdruck kommt mir in den Sinn, wenn ich an viele Arbeiten von Bente Stokke aus den letzten Jahrzehnten denke. Denn ihr Material ist eine Abart des höchst alltäglichen Staubes, gegen den der Putzteufel ankämpft; allerdings eine weniger harmlose. Im Naturprozess ist Staub beides: tote und lebende Materie; nicht nur Zerfallsprodukt, sondern auch Leben spendender Stoff, nicht nur Moder, sondern auch Blütenstaub. Wolfgang Laib hat uns in vielen seiner Arbeiten die Schönheit des Blütenstaubs gezeigt.

Gleichwohl ist das Wort Staub in unseren Sprachbildern eindeutig negativ besetzt. Asche und Staub sind Inbegriffe der Vergänglichkeit, geradezu die ‚Antimaterie’ für den klassischen Kunstbegriff, der auf Dauer eingestellt ist. Sie scheinen sich dem Formwillen sich zu verweigern. Von Zeit zeugen sie nur als dem „Furor des Verschwindens“. Bente Stokke benutzt eine Variante dieses Materials, die am unansehnlichsten und zugleich für unser historisch und ökologisch empfindliches Bewusstsein am meisten belastet ist: das Sediment des zivilisatorischen Alltags, nämlich Industriestaub, wie er sich in den großen Rohren von Verbrennungsanlagen ablagert.

Bente Stokke folgt konsequent dem Materialgedanken einer Arte povera, einer „armen Kunst“, und ist doch zugleich auf die Bildidee des Erhabenen aus. In ihren wenigen Kommentaren verweist die Künstlerin stets auf die graue Alltäglichkeit ihres Materials, aber auch auf den „stardust“, den Staub, aus dem die Sterne gemacht sind. Ihre Arbeiten sind gleichsam Staubfänger, die stets an einen bestimmten Ort, einen Innenraum, gebunden sind; sie müssen es sein, weil sich ein Werk aus Staub nicht transportieren lässt. Sie entstehen an Ort und Stelle und werden auch dort wieder abgebaut, richtiger: zusammengekehrt und weggeräumt. Bewahren lassen sie sich nicht – sie lassen auch nicht mit sich handeln –, denn mit den Werken verhält es sich wie mit Mörikes „Feuerreiter“: „Husch! Da fällt’s in Asche ab“. Dennoch haben viele von ihnen den bezwingenden Ausdruck von stillgelegter Zeit. Aus dem Material des Vergessens gewinnt Bente Stokke bezwingende Bilder, die sich dem Gedächtnis unverlierbar einprägen.

Seit Mitte der 80er Jahre werden die Arbeiten immer genauer auf einen konkreten Ort bezogen. Die einfachen Grundformen, die den Rahmenbau der Installationen bilden, entwickelt die Künstlerin in Hinblick auf die Gegebenheiten des Ortes. Sie verwandelt ihn sich sozusagen als Fundstätte für ihre Bildvorstellungen an. Die Arbeiten kommen am besten zu ihrem Recht, wenn sie ein definierbares und abgeschirmtes Areal einnehmen; sie wollen, dass wir sie mit sich und uns allein lassen. In den Dimensionen wendet die Künstlerin oft ein Maß an, das, wie sie sagt, eine Zwischengröße zwischen einem gewöhnlichen Gegenstand und einem Haus bildet. Das gibt ihren Werken bei aller Leichtigkeit und Flüchtigkeit des Materials eine monumentale physische Präsenz.

Im Jahre 1986 erhält Bente Stokke den angesehenen Preis der norwegischen Wochenzeitung Morgenbladet für eine Arbeit, die sie auf der Herbstausstellung in Oslo zeigt. Es handelt sich um eine vier Meter lange Kastenform, die mit einem Tuch abgedeckt und einer dichten grauen Schicht eingestaubt ist. Der Titel „Reserviert“ legt es nahe, dass wir es mit einem Tisch zu tun haben. Obwohl es keine zusätzlichen ikonischen Hinweise darauf gibt, stellt sich beim Betrachter doch spontan die Assoziation zum Tisch des Abendmahles her. Der Titel ist treffend zweideutig, denn er spielt auf das Zurückgenommene, die Distanz im Ausdruck an. Das Werk ist bezwingend nah und doch unberührbar. Es ist eine doppelte, paradoxale Unberührbarkeit: Der Schmutz stellt ein Bild des Reinen her, das höchst profane Material wird auratisch, zum Träger sakralen Ausdrucks.

Ähnliches lässt sich über die drei Installationen sagen, die Bente Stokke unter dem Titel „Das Schiff“ 1989 in New York, Oslo und Eckernförde, 1993 in San Francisco und im Jahre 2000 im norwegischen Tønsberg realisiert hat, wo eines der berühmten Wikingerboote ausgegraben wurden, die heute im Museum zu Oslo zu besichtigen sind. In der Geschichte der Seefahrernation Norwegen spielt das Schiff eine bedeutende ikonische Rolle als Metapher der Lebensreise und der Überfahrt ins Jenseits. Die fünf Projekte haben das gleiche Thema und sind doch aufgrund der ungleichen räumlichen Situation - verschieden. Im Oberlichtsaal der Osloer Galerie ragt eine Bugform, die an die schwungvollen Linien eines Wikingerschiffes gemahnt, bis ins Glasdach und flacht breit auf den Bohlen des Fußbodens aus; tragende Konstruktion ist eine Plane, die an einer Aufhängung befestigt ist. Unser Blick kann diese Gestalt dynamisch lesen, mit wechselnden Konnotationen als Sturz oder Aufschwung. Auf dem Weg zur Installation hat die Künstlerin eine Kohlenzeichnung des Sternbildes Sagittarius platziert, wo in dem die Astronomie ein supermassives schwarzes Loch vermutet. Dem Sog des Verschwindens stellt sich die Widerständigkeit des Bildes entgegen.
Anders bietet sich die Bootform in Eckernförde dar: Hier ruht der Bootskörper kieloben auf dem Boden; wir fassen das Werk als eine geschlossene, nach innen gewandte Form auf. Dennoch gehören alle drei Arbeiten der gleichen archaisierenden Gestimmtheit zu, die Assoziationen an Grabbeigaben und Totenschiffe nahelegt.

Bente Stokke gehörte zu den internationalen Künstlern und Künstlerinnen, die 1990 zur Eröffnungsausstellung "Schwelle II" des norwegischen Nationalmuseums für Gegenwartskunst in Oslo eingeladen wurden. Das Museum war in ein Gebäude gezogen, das in der Zeit der Gründung des norwegischen Staates 1905 für die norwegische Staatsbank gebaut worden war. Um es als Museum herzurichten, musste alles Inventar ausgeräumt werden, aber ohne wesentliche Eingriffe in Bausubstanz und Innenausstattung, da das Haus unter Denkmalschutz stand. Die Künstlerin griff in ihrer Arbeit "Die Bibiliothek" das Thema ‚Leere’ auf. Sie wählte einen Raum, der in seinen Proportionen sehr wohl eine Bibliothek hätte beherbergen können. Von dieser zeichneten sich nur die Regale ab, die der ‚Bücherstaub’ als weiße Struktur an den Wänden freigelegt hatte. Museum und Bibliothek sind Orte der Erinnerung. Bente Stokke schuf ein erinnerungsmächtiges Bild, in dem Verlassenheit und Entleerung der Erwartung und dem Versprechen neuen Inhaltes entgegen standen.

Nicht immer unterbaut Bente Stokke ihre Rauminstallationen mit ikonischen Großformen. Illustrative Deutlichkeit will sie vermeiden. Gerade auf diese Weise gelingen ihr oft besonders ausdrucksvolle Inszenierungen von verlassenen Räumen wie von sublimen Stillleben oder Dingen.